Didaktik-Labor, Helmut M. Selzer
 

 

Was ist schädlich an den deutschen Schul-Bürokratien?

Die Erfindung der Bürokratie reicht nach unserem heutigen Wissen an die 5000 Jahre zurück. Es war eine für die menschliche Vergesellschaftung, für die Staatenentstehung und für effektive Staatsorganisation höchst bedeutsame Kompetenz: Erfassen, zählen, messen, dokumentieren, verwalten, planen. Bürokratien sind in einem Staatswesen unverzichtbar. Bürokratie ist eine Voraussetzung für die Stabilität einer Gesellschaft, für die Sicherheit von Gewerbe und Handel, für die Rechtsgleichheit des einzelnen Bürgers. Ich polemisiere keineswegs gegen Bürokratie an sich. Aber ich nehme mir das Recht, auf Bürokratie-Entwicklungen im Schulwesen hinzuweisen, die insgesamt mehr schaden als sie dienen und nützen.

Die Bürokratisierung von Schule war im 18. und 19. Jahrhundert eine wichtige Vorbedingung für die Entwicklung des allgemeinen Bildungswesens in deutschen Ländern. Einher ging damit die Verrechtlichung von Schule, die Systematisierung des Lehrens, die Organisation von Lehrerbildung, die Herausbildung von staatlicher Schulhoheit. Neben anderen Gründen auch aus Argwohn gegenüber der Lehrerschaft, sie könnte liberale und systemkritische Gedanken an die Kinder weitergeben, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine staatliche Überwachungs-Schulaufsicht begründet (die übrigens eine kirchliche ablöste), wurde zu Beginn des 20. eine mächtige maßregelnde Schulverwaltung installiert. Die Weimarer Republik suchte gleiche Bildungsrechte für Kinder aus allen Schichten zu gewährleisten, und baute die Schulbürokratie aus. In der BRD gab es ab den 1960er Jahren Bemühungen um die Sicherung von mehr Chancengleichheit im Bildungswesen. Aber der Kampf um Privilegien und um Statuserhalt entbrannte darob schnell. Der Streit um die besseren Schulsysteme wurde ausgetragen zwischen den A- und den B-Ländern.

16 kontraproduktive Schul-Bürokratiesysteme

Die Diskussion darüber, ob die derzeit 16-ländrigen Schulsysteme in Deutschland in ihrer Zersplitterung den Zukunftsaufgaben überhaupt noch gerecht werden können, haben wir aus dem 20. ins 21. Jahrhundert hinübergenommen. Der Streit um Lösungen bewegt sich auf hohem Niveau - will sagen in hochrangig besetzten Gremien, Konferenzen, Ausschüssen. Vorschläge zur Schadensabwehr für Schüler, Lehrer und Eltern liegen vor. Aber die Bürokratiesysteme der 16 quasi-souveränen Schul-Staaten blockieren sich und verständigen sich oft nur auf niedrigen Niveaus.

Meine vorläufige Liste der 13 gravierenden Schäden an den deutschen Schulsystemen - in knapper Form auf wenige Begriffe reduziert - sieht so aus:

1. Schädlich für eine verantwortbare Chancengleichheit ist die (bis zu) Siebengliedrigkeit des Schulsystems: Die sieben Teilsysteme (Grund-, Haupt-, Real-, Gesamt-, Sonder-/Förderschulen, Gymnasien, berufsbildende Schulen mit Hochschulzugang) erfordern je Bundesland - also 16 mal 7 oder mehr - administrative Stäbe (Ministerialabteilungen, Bezirksregierungsschulabteilungen, etc.), 16 mal 7 oder mehr Linien der Schulorganisation (Leitungen, Schulaufsichten, Personalvertretungen), 16 mal 7 oder mehr Ausbildungswege (Studienordnungen, Prüfungsordnungen: und natürlich für jedes Fach eigene), 16 mal 7 oder mehr Konzepte (Stundentafeln, Curricula, Lehrpläne, Unterrichtswerke, Schulbücher: und zwar für jedes Fach und für jede Altersstufe spezielle), 16 mal 7 oder mehr Detailbürokratien mit Ordnungen, Verwaltungsregelungen, Amtsblättern, mit Beratungsinstitutionen, Weiterbildungsorganisationen, Ombudsstellen etc. Man möchte sich von der Vielgliedrigkeit eines Schulwesens die positiven Wirkungen erwarten, wenn zum Beispiel die vielen Einheiten in selektiver Konkurrenz zueinander agierten und nach Leistung und Ertrag sich unterscheidend zur freien Auswahl stünden. Aber leider Fehlanzeige!

2. Schädlich für die Kundenorientierung und Innovationsoffenheit des pädagogischen und didaktischen Personals ist der immer noch vorherrschende Beamtenstatus der meisten Akteure. Ich bediene nicht das Vorurteil, daß beamtete grundsätzlich weniger kundenorientiert wären als angestellte Lehrer. Es ist vielmehr die historische Belastetheit des Status des beamteten Lehrers. Er steht in einem besonderen Treueverhältnis zu seinem Dienstherren. Eine Bürokratie legt fest, was er zu erledigen hat, aber selten wird ausgehandelt, wie qualitätvoll seine Arbeit mit den Schülern sein muß, und auch nicht, welche Ergebnisse, welche Resultate seine Bildungsbemühungen nach einem, nach zwei Jahren zu erbringen haben.

3. Schädlich und kontraproduktiv für eine breit gestreute Verantwortungsübernahme ist der immer noch vorherrschend statische Aufbau des Personals. Dieser Aufbau schuf steile, ineffiziente Hierarchien mit einer stark entwickelten Mentalität zur Besitzstandswahrung. Nicht Manager sondern Hierarchien prägen das deutsche Bildungswesen. Die Ausbildung eines professionellen Managements ist noch (fast) kein Thema für Lehrerbildung und Lehrerfortbildung.

4. Schädlich für die Leistung und somit für die Resultatorientierung der Mitarbeiter ist das immer noch vorherrschende Prinzip der Beförderung und Einkommenserhöhung aus Altersgründen. Im Gegensatz dazu stünde ein an nachgewiesener Leistung orientierter Lohnzuwachs . Die Besoldungssystematik ist nicht mehr zeitgemäß. Leistung sollte früher und mehr anerkannt werden durch Funktions- oder Verantwortungs-Zuwachs - und zwar in den Feldern, wo die Stärken des Mitarbeiters liegen. An der Beurteilung der erbrachten Leistung sollten übrigens auch die Kunden eines Lehrers beteiligt sein, also die Eltern und die Schüler.

5. Schädlich für die Unternehmensentwicklung, für eine bewußte Identifizierung der Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen Schule, und für die Gewinnung einer leistungsbereiten Teamorganisation ist das immer noch eingeschränkte Recht der Schulen, die künftigen Mitarbeiter-Lehrer selbst zu suchen, auszuwählen und einzustellen, verbunden mit dem Recht, sie ggf. selbst wieder entlassen zu können. Rückstufungen, Entlassungen wegen Minderleistung, also personelle Korrekturmaßnahmen sind heute immer noch höchst selten, sie kommen praktisch nicht vor. Eine klug organisierte Personalhoheit gehört in die Hand des örtlichen oder eines regionalen Schulmanagements.

6. Schädlich für das Unternehmen Schule ist das immer noch höchst eingeschränkte Etatrecht der Schulen. Eine Schule bleibt so lange ein Filialbetrieb des Kultus-Großkonzerns, wird also kein selbständiges Unternehmen, so lange die Verantwortung für die Verwendung der Finanzmittel von externen (außerhalb der Schulen angesiedelten) Finanz-Sachbearbeitern wahrgenommen wird.

7. Schädlich für Vertrauenspflege und Verantwortungsübernahme ist das immer noch vorherrschende Prinzip von 'Schulaufsicht' im Sinne von bürokratischer Beaufsichtigung und Überwachung der Lehrer. 'Bildungsentwicklung' im Sinne von Fortbildungsförderung, 'Coaching' von Lehrern in schwierigen Situationen, 'Supervision' für die alltägliche Problembewältigung, Rechtsbeistand gegenüber uneinsichtigen Eltern, Unterstützung und Rat und manches mehr brauchen Lehrer, auf Besserwisser-Schulaufsichtsbeamte können sie verzichten.

8. Schädlich für Dynamik und Innovation ist das immer noch vorherrschende Prinzip 'Administration von Bildung' (im Sinne von Reglementierung, Festschreibung, Strukturwahrung) versus 'Bildung geschehen lassen' (im Sinne von Ermutigung zu unkonventionellen, zu überraschenden, zu situativen Lern- und Begegnungsprozessen). Lehrpläne mögen als grobe Richtungsvorgaben hilfreich sein, - aber wirklich entscheidend ist, was diese klugen Konzepte in den Kindern und bei den Schülern letztendlich bewirken, und in welcher Qualität die Lerner mit dem vermittelten Wissen umzugehen gelernt haben.

9. Schädlich für Idee und Praxis von selbstverantwortetem Lernen ist die immer noch vorherrschende Manie der Zensurengebung: Zensuren als Selektionsfilter, Zensuren als Berechtigungsausweise für statussichernde weitere Bildungsangebote: das ist das Gegenteil von Bildung, das erinnert an Zirkusdressur.

10. Schädlich für die Organisationshygiene ist die immer noch unzulängliche Möglichkeit, institutionellen Müll, strukturellen Müll, inhaltlichen Müll aus den Schulen und Schulverwaltungen regelmäßig und rasch zu entsorgen. Müllentsorgung ist eine tägliche Aufgabe und eine periodische. Je sperriger der Müll ist, um so mehr Entsorgungswille ist nötig. Bürokratien lieben ihren Traditionsmüll.

11. Schädlich für den Bildungserfolg ist die unzulängliche Elterneinbindung. Eltern müssen mehrmals im Jahr im alltäglichen Unterricht neben ihrem Kind auf der Schulbank sitzen und Unterricht live erfahren können. Vielleicht begreifen sie dann eher, was sie ihren Kindern antun, wenn sie diese mehr als eine Stunde täglich fernsehen lassen, was sie ihnen antun, wenn das Gespräch bei Tisch nicht anregend für die Kinder ist, was sie ihnen antun, wenn sie ihre Kinder nicht erziehen. Aber zu viele rechtlich-bürokratische Barrieren verhindern die Öffnung von Schulen für diejenigen, die eigentlich an erster Stelle mit eingebunden gehörten.

12. Beileibe nicht alle Verantwortung liegt bei den Bürokraten. Eine zentrale Verantwortung für nicht hinnehmbare Zustände tragen politische Entscheidungsträger, Politiker, denen ihre Schule vielleicht schlecht bekommen ist. Aber sollten sie nicht ermutigt werden, von Wählern beauftragt werden, das Lehren und das Lernen für die Zukunft zu verändern?

13. Eine Schule ohne feste Einbindung der Eltern wird scheitern. Aber auch eine Schule ohne interessierte Schüler wird scheitern. Und eine Schule mit verwalteten Lehrern wird scheitern. (Die Resultate können wir an deutschen Schulen studieren; wir bekommen das Desaster durch internationale Studien bestätigt.) Erziehungswillige Eltern, bildungsinteressierte Schüler und leistungswillige Lehrer, das sind die drei inneren Faktoren von zukunftsfähiger Schule. Lernfähige und gemeinwohldienende politische Entscheidungsträger und dezentrale, wirklich konkurrierende Schulunternehmen mit bestem Management, das sind die zwei äußeren Faktoren. Alle fünf Faktoren müssen sich selbst reformieren. Das ist die Aufgabe des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert.


Klar, ich bin mir dessen bewußt, daß ich mit obiger Aufzählung einer Reihe von Lehrern, Schulleitern, selbst Schulräten und Kultusbürokratie-Beamten unrecht tue. Bei allen denen, die mehrere der obigen Reklamationen und Forderungen bereits erfolgreich und nachhaltig behoben bzw. erfüllt haben (in einem kleinen Wirkungskreis oder in einem Bundesland), bei denen entschuldige ich mich. Aber ich bin mir auch sicher, daß es nicht allzu viele Verantwortungsträger sind, bei denen ich mich zu entschuldigen habe.


© Helmut M. Selzer
2.5.2002




Referenz: Auch wenn im Text personenbezogene Substantive zumeist maskulin gebraucht werden, sind stets Frauen wie Männer benannt.


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